Dr. phil. Christoph J. Schmidt-Lellek
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Life-Coaching als Anleitung zur Selbstsorge


(Erschienen in: Bernd Birgmeier (Hrsg.): Coaching-Wissen. Wiesbaden: VS Verlag, 2009.



1. Zum Begriff Life-Coaching

In diesem Beitrag möchte ich das von Ferdinand Buer und mir entwickelte Konzept des Life-Coaching in einigen Grundzügen vorstellen (Buer & Schmidt-Lellek 2008). Wir haben damit eine Fragestellung im Auge, die aus der Coaching-Praxis erwachsen ist, nämlich aus der Erfahrung, dass die berufsbezogenen Themen, mit denen jemand ein Coaching aufsucht, häufig verbunden sind mit übergreifenden Themen, die das Arbeitsleben überschreiten: Coaching wird zwar als berufsbezogene Beratung definiert, als "professionelle Beratung, Begleitung und Unterstützung von Personen mit Führungs- und Steuerungsfunktionen und von Experten in Organisationen" (DBVC 2007: 53); aber viele Coaching-Klienten wollen dabei auch persönliche Themen mit einbezogen wissen.

Dies ist letztlich auch gar nicht anders denkbar, denn insbesondere Personen mit Führungsverantwortung und andere Fachkräfte, die in der Arbeit mit anderen Menschen eine hohe professionelle Verantwortung tragen (wie z.B. Ärzte, Lehrer, Seelsorger, Psychotherapeuten), sind nicht nur in ihren jeweiligen fachlichen Kompetenzen und Funktionen, sondern auch in ihrer ganzen Persönlichkeit herausgefordert. Denn neben ihrem fachlichen Wissen und Können ist ein wesentliches "Instrument" ihres Handelns die eigene Person - mit den individuellen Neigungen und Abneigungen, lebensgeschichtlich erworbenen Erfahrungen und Kompetenzen, Stärken und Schwächen. Dieses "Instrument" zu schützen, zu pflegen und weiterzuentwickeln, dient also nicht allein dem individuellen Wohlbefinden, so wichtig dieses auch ist, sondern auch der Qualität professionellen Handelns. So gesehen bietet Life-Coaching einen Raum, in welchem die "ganze Person" mit den verschiedenen Facetten thematisiert werden kann, und dazu gehören "auch Einstellungen, Motivationen, Glaubenssätze, affektive, kognitive und soziale Kompetenzen, biografische Muster, persönliche Werte und Lebensvorstellungen" (Martens-Schmid 2007: 18).

Anlässe für ein Coaching sind meistens irgendwelche Krisen oder Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst oder mit anderen (Mitarbeitern, Geschäftspartnern, Klienten), Unsicherheiten in der beruflichen Entwicklung (Karriere) oder in der Positionierung in der jeweiligen Organisation, grenzwertige Belastungen durch die Menge oder die Inhalte des beruflichen Tuns (Wertekonflikte, Burnout-Gefährdung) oder auch ein Verlust der Balance zwischen den verschiedenen Lebensbereichen (Work-Life-Balance) sowie ein Wunsch nach Veränderung und Weiterentwicklung. In der Beschäftigung mit solcherlei Themen hat Coaching vor allem die Aufgabe, die eigenen Ressourcen für deren kreative Bewältigung zu aktivieren. Es zielt auf eine "Förderung der beruflichen Selbstgestaltungspotenziale, also des Selbstmanagements von Führungskräften und Freiberuflern" (Schreyögg 2003: 13).

Die Perspektive "Life-Coaching" ist dabei nicht als eine Alternative zum Business-Coaching zu verstehen, sondern darin als Vertiefung bzw. Ausweitung des Horizonts, und zwar mit einer doppelten Richtung:

(1) Horizontale Ausweitung: Life-Coaching richtet sich auf den gesamten Lebenszusammenhang eines Menschen. D.h., die berufsbezogenen Fragestellungen werden nicht für sich allein betrachtet, sondern im Kontext der ganzen Lebensumstände und der Lebensplanung des Coachee.

(2) Vertikale Ausweitung: Life-Coaching richtet sich auf den ganzen Menschen in allen seinen Dimensionen. D.h., Life-Coaching bemüht sich nicht allein um die beruflichen Funktionen eines Menschen, um Erfolg, Effektivität und Effizienz seiner Arbeit (Wirkung nach außen), sondern auch um die emotionalen Aspekte, wie die berufliche Arbeit erlebt wird (Wirkung nach innen). Diese Perspektive lässt sich auffächern in die Fragen, wie durch berufliche Arbeit Sinn, Glück und Verantwortung erlebt werden können und welche Bedingungen damit für ein gelingendes Leben gefunden oder geschaffen werden können. Auf diese Weise erhalten die im Coaching eingebrachten Themen eine existenzielle Dimension.

Life-Coaching verbleibt damit im Kontext des Business-Coaching, also der berufsbezogenen Beratung für Fach- und Führungskräfte. Nach unserem Konzept ist der Begriff abzugrenzen von einer allgemeinen Lebensberatung, die vielfach mit "Life-Coaching" assoziiert wird (wie man es im Internet vielfach unter diesem Stichwort findet, z.B. als Paarberatung, Wellness, esoterische Angebote u.v.a.). Weiterhin ist Life-Coaching von der Psychotherapie abzugrenzen, in der zwar persönliche Lebensthemen im Vordergrund stehen, aber mit dem Fokus der Heilbehandlung; allerdings kann manches konzeptionelle Wissen und methodische Können aus dem Bereich der Psychotherapie für die Arbeit im Coaching nützlich und auch notwendig sein (vgl. die Seite "Coaching und Psychotherapie"). Neben dem psychologischen und psychotherapeutischen Wissen sind natürlich auch etliche weitere Wissensquellen bedeutsam, wie z.B. die Wirtschaftswissenschaften, Betriebswirtschaftslehre, Organisationslehre, Managementlehre, Soziologie und in unserem Zusammenhang v.a. auch die Philosophie.

2. "Selbst" und "Selbstsorge"

Life-Coching lässt sich neben manchen anderen Aspekten als eine Anleitung zur Selbstsorge begreifen, d.h. zu einem reflektierten und achtsamen Umgang mit sich selbst in allen zentralen Lebensdimensionen. Damit lässt sich Coaching in eine bedeutsame abendländische Tradition einordnen, denn die Sorge um sich selbst ist bereits von den griechischen und römischen Philosophen der Antike (z.B. Epikur, Epiktet, Seneca, Marc Aurel) als zentraler Aspekt der Lebenskunst betrachtet worden. In unserer Zeit hat vor allem der französische Psychologe und Philosoph Michel Foucault (1986) dieses Wissen wieder in die Diskussion gebracht. Er hat dabei hervorgehoben, dass insbesondere Menschen, die andere Menschen führen oder behandeln, nur dann dazu legitimiert sind, wenn sie sich auch selbst führen und behandeln können, wenn sie ein hinreichendes Maß an Selbstreflexion, Autonomie und Selbstbeherrschung geschaffen haben. Selbstsorge ist "Einübung in die Praxis der Freiheit", nämlich einen Lebensstil zu entwickeln, der von Selbstverantwortung geprägt ist (vgl. Gussone & Schiepek 2000: 16 f.).

Eine gelingende Sorge um sich selbst ist außerdem eine Voraussetzung für eine gelingende Sorge für Andere und für Anderes: Selbstsorge und Fremdsorge, Selbstverantwortung und Fremdverantwortung stehen in einem Wechselverhältnis. Eine Balance zwischen beiden kann nach beiden Seiten hin verloren gehen: als Egozentrik, d.h. als Überbetonung des Selbstinteresses auf Kosten der Verantwortung für Andere, und als Überbetonung der Sorge für Andere auf Kosten der Selbstsorge. Ersteres drückt sich in einer vielfach anzutreffenden Ellenbogenmentalität aus, indem alle anderen für eigene Zwecke instrumentalisiert werden. Letzteres kann sich in einem Überengagement für andere oder für eine Institution ausdrücken, wie es z.B. manchmal in helfenden Berufen anzutreffen ist. Es gibt aber auch Haltungen, die sich als eine Mischung aus beiden Fehlformen beschreiben lassen, wenn z.B. eine Nachwuchsführungskraft als "High Potential" sich für eine Firma übermäßig engagiert und dabei im Interesse einer schnellen, steilen Karriere "über Leichen geht", um schließlich in einer Machtposition nicht nur mit sich selbst, sondern entsprechend auch mit Anderen ausbeuterisch umzugehen - also eine Konstellation, in der man weder von einer Kultur der Selbstsorge noch von einer verantwortlichen Sorge für Andere reden kann.

Zunächst will ich jedoch den Begriff des „Selbst kurz erläutern, da er sowohl in unserer Umgangssprache nicht eindeutig verwendet wird als auch in der psychologischen Fachliteratur unterschiedlich aufgefasst wird. In Anlehnung an die Selbstpsychologie nach Kohut (vgl. Wolf 1996: 224) lässt er sich mit der Unterscheidung zwischen "Ich" und "Selbst" verdeutlichen: Die Ich-Funktionen betreffen die äußeren, zu lernenden Kompetenzen, die einem insbesondere im beruflichen Leben abverlangt werden. Das Selbst stellt demgegenüber den Bereich des inneren Lebens dar, ein grundlegendes Wertgefühl als einmalige Person in dieser Welt und damit die Möglichkeit zu engen Beziehungen (Ehe, Familie, Freunde, Verwandte, Kollegen). Hier sind andere Dimensionen der Persönlichkeit gefragt, die nicht als lernbare Kompetenzen und Funktionen zu verstehen sind, sondern die vielmehr durch ganzheitliche, emotionale Erfahrungen entstehen: sich anvertrauen, sich hingeben können, sich getragen wissen in liebevollen, freundschaftlichen Beziehungen, mit Anderen mitfühlen und sich für sie einsetzen können - ohne die innere Notwendigkeit, das jeweilige Geschehen möglichst umfassend überblicken und kontrollieren zu müssen.

Diese Unterscheidung ist für das Life-Coaching deswegen von besonderer Relevanz, weil bei einer berufsbezogenen Beratung leicht übersehen wird, dass eine erfolgreiche berufliche Funktionalität in erster Linie das äußere Ich betrifft und dass dabei die andere Seite der Person, das Selbst, möglicherweise überspielt oder unterdrückt wird und sich dabei nicht entwickeln kann. Die Problematik eines starken Auseinanderklaffens von Ich und Selbst ist insbesondere im Coaching von Führungskräften häufig anzutreffen: Hinter dem Glanz einer erfolgreichen Führungspersönlichkeit (d.h. hinter den starken Ich-Funktionen) verbirgt sich nicht selten ein schwaches, leicht kränkbares Selbst, oder eine tiefgreifende narzisstische Proals eigentliche Antriebskraft für überdurchschnittliche Leistungen oder für ein Streben nach Macht (Kets de Vries 2002: 94; vgl. die Seite "Führung und Narzissmus"). Diesen Widerspruch hat bereits Friedrich Nietzsche beobachtet, für den der "Wille zur Macht" (zu verstehen als "Selbstmächtigkeit") eine zentrale existenzielle Kategorie darstellt: "Mir ist der Hang zum Herrschen oft als ein inneres Merkmal von Schwäche erschienen: sie fürchten ihre Sklavenseele und werfen ihr einen Königsmantel um (sie werden zuletzt doch die Sklaven ihrer Anhänger, ihres Rufs usw.)"  (Nietzsche 1880: 252).

Ein Auseinanderklaffen von Ich und Selbst oder in anderen Worten von beruflicher und persönlicher Identität wird heute allerdings auch durch die Entwicklungen unserer Arbeitswelten gefördert: Für die Lebensgestaltung und insbesondere für die Gestaltung seiner Arbeitszeit und die Entwicklung seiner beruflichen Identität bieten traditionelle berufliche Rollenmuster und Arbeitskonzepte einem Berufstätigen heute keine hinreichende Sicherheit mehr. Menschen sind in zunehmendem Maße genötigt, sich persönliche, individuelle Formen für die Gestaltung ihrer beruflichen Arbeit zu schaffen, die für sie passen. Dies bietet einerseits ein hohes Maß an individueller Freiheit; andererseits sind sie genötigt, diese Freiheit auch zu nutzen, aus den vielfältigen Möglichkeiten auszuwählen und sich immer wieder neu zu entscheiden (vgl. die Diskussionen um die "Postmoderne", z.B. Welsch 1991, Zima 2001, oder die "Risikogesellschaft", Beck 1986).

Aber diese Herausforderung einer autonomen Lebensgestaltung scheint für viele Menschen eine Überforderung darzustellen. Insbesondere bei den Personen, an die sich das Beratungsformat Coaching richtet, nämlich Führungskräfte und Freiberufler, wird der Verlust von traditionellen Formen, die berufliche Arbeit zu gestalten, spürbar und hat häufig beträchtliche Auswirkungen auf die eigene Gesundheit, auf das Privatleben in Beziehungen und Familien und auf die weiteren sozialen Vernetzungen. Generell scheint für diesen Personenkreis die Bedeutung von beruflicher Arbeit gegenüber anderen Lebensbereichen dermaßen vorzuherrschen, dass man vielfach von einer "Entgrenzung der Arbeit" redet. Umso wichtiger wird eine verantwortliche individuelle Gestaltung seiner Arbeitsabläufe; denn eine unkritische Anpassung an (von Firmen, Konzernen usw.) vorgegebene Arbeitserwartungen erscheint vielfach geradezu als eine Form von Selbstausbeutung, mit auf die Dauer selbstschädigenden Folgen.

Die Gefahr dazu ist dann besonders groß, wenn ein schwaches Selbst sich nicht entwickeln kann und wenn die erfolgreichen Ich-Funktionen nicht mit einem hinreichend stabilen, sich aus vielfältigen Quellen nährenden Selbstwertgefühl verbunden sind. Daraus kann weiterhin folgen, dass eine Person sich in unangemessener Weise vom Erfolg der äußeren, beruflichen Funktionen abhängig macht - die sprachliche Assoziation an Suchtabhängigkeit im Wort „Workaholic ist hier naheliegend. Eine solche Abhängigkeit ist ebenso wie jede andere Sucht ein Hinweis auf ein instabiles oder defizitäres Selbst. Anders gesagt, je stärker die Spannung durch ein Auseinanderklaffen von Ich und Selbst erlebt wird, desto größer ist die Suchtgefährdung, bedingt durch - zweifellos letztlich untaugliche - Versuche, eben diese Spannung zu überbrücken, sie nicht zu spüren oder nur auszuhalten.

Dies kann die Qualität der Arbeit erheblich beeinträchtigen, denn insbesondere bei Führungskräften mit Personalverantwortung hat auch die Beziehungsfähigkeit zu anderen Menschen eine große Bedeutung. Deswegen wäre eine einseitige Unterstützung der Ich-Funktionen auf lange Sicht auch in beruflicher Hinsicht nicht unbedingt erfolgversprechend, ganz abgesehen von den Auswirkungen auf die ganze Persönlichkeit.

So muss ein Coach sich selbstkritisch fragen, wie weit er diese Wahrnehmungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Persönlichkeit des Klienten hat. Wie steht es mit seiner Verantwortung, wenn er nur die - mehr oder weniger gut funktionierenden - Ich-Funktionen im Blick hat und nicht wahrnehmen will oder kann, dass diese auf einem unsicheren oder sogar brüchigen Untergrund stehen? Wie weit ist es sinnvoll oder möglich, allein die beruflichen Funktionen zu stabilisieren, wenn absehbar ist, dass z. B. bei einem Jobverlust oder bei der Berentung sich keine andere Stabilität hat entwickeln können? Für manchen Coaching-Klienten, der durch ein Outsourcing seine bisherige Position verloren hat, kann dies in eine schwere persönliche Krise münden, auch wenn er keine ökonomischen Probleme hat: Das eigentliche Problem ist der empfundene Wertverlust, besonders wenn es außer der beruflichen Arbeit keine andere stabile Quelle des Selbstwertgefühls gibt, die den Verlust auffangen könnte. In extremen Fällen kann der Coach die Selbstsorge des Klienten dadurch unterstützen, dass er ihm neben dem Coaching eine Psychotherapie empfiehlt; hier können verborgene Erlebens- und Bewertungsmuster, die in der Regel eine lange Geschichte haben, genauer, als es im Coaching möglich ist, bearbeitet werden. Ernsthafte Störungen des Selbst können ohnehin nur in einer Psychotherapie behandelt werden.

Eine Anleitung zur Selbstsorge im Life-Coaching bedeutet, solche meistens verborgenen Dynamiken wahrzunehmen und auch zu thematisieren im Interesse eines hinreichend stabilen Gleichgewichts von äußeren Ich-Funktionen und innerem Selbst-Erleben. "Selbstsorge" bezieht sich also nicht nur auf das "Selbst" im oben genannten engeren Sinne, sondern auf die ganze Person mit allen Anteilen und Dimensionen; es ist die Sorge um die ganze Person mit der Perspektive des Lebensganzen. Das Ziel ist die Integration, die Verbundenheit der verschiedenen Persönlichkeitsanteile und auch der verschiedenen Tätigkeitsdimensionen (s.u.). Dies ist als ein Merkmal von gelingendem Leben zu verstehen.

3. Die Hauptthemen des Life-Coaching: Sinn, Glück, Verantwortung

Im Folgenden sollen nun die wichtigsten existenziellen Themen angerissen werden, die im Life-Coaching mit den Klient/innen, bezogen auf ihre jeweilige Problematik, erörtert werden können. Damit soll der Fragehorizont gegenüber dem üblichen Business-Coaching erweitert werden, indem die im beruflichen Alltag auftretenden Konflikte, Schwierigkeiten, Probleme mit den Fragen nach Sinn, Glück und Verantwortung in Verbindung gebracht werden. Denn dies sind die Bezugsgrößen für ein gelingendes Leben insgesamt, in dem die berufliche Arbeit ein bedeutsamer Teil ist.

Das Verständnis von Sinn und von Glück als Ausdruck eines gelingenden Lebens ist heute in hohem Maße subjektiv geprägt. Übergreifende Sinnmuster, wie sie traditionell in den religiösen Institutionen gelten, verlieren zunehmend ihre Verbindlichkeit. „Postmoderne Identitätskonstruktion bedeutet, dass an die Stelle von herkömmlichen Rollen- und Karrieremustern "der flexible Mensch" (Sennett 1999) und eine "Patchwork-Identität" (Keupp 1999) getreten sind. Daraus folgt die Notwendigkeit, sich in stärkerem Maße als in vergangenen Epochen um seine individuelle Identität und um seinen individuellen Sinn zu sorgen. Trotz dieser Subjektivität des jeweiligen Verständnisses lassen sich auf allgemeiner Ebene vor den inhaltlichen Bestimmungen Aussagen machen, auf welche Weise die Fragen nach Sinn und Glück sinnvoll gestellt werden können und welche Bedingungen dafür förderlich sind. Life-Coaching bietet einen Rahmen, in dem diese Themen im individuellen Dialog mit einem Klienten untersucht werden können. Im Rahmen dieses Beitrags nenne ich nur einige wenige Stichworte, in welcher Weise und mit welchen Konzepten eine Reflexion darüber befördert werden kann.

3.1 Sinn

Die Frage nach dem Sinn taucht in der Regel dann als persönliches existenzielles Thema auf, wenn der Sinn nicht mehr selbstverständlich ist. Typischerweise geschieht dies z.B. bei Jugendlichen, wenn sie aus der Sicherheit ihres Elternhauses hinauswachsen und hinausstreben; oder häufig forciert in der Lebensmitte, wenn einem die Endlichkeit der eigenen Lebenszeit und die Begrenztheit der eigenen Lebensmöglichkeiten allmählich bewusster spürbar werden. In solchen oder in ähnlichen Krisen verlieren bisherige Lebensinhalte jeweils ihre unbezweifelte Gültigkeit, und es werden neue Wertsetzungen und neue Orientierungen für sein Denken und Handeln gesucht. Die Sinnfrage lässt sich mit steigender Horizontweite auf drei verschiedenen Ebenen stellen:

(1) Ebene des konkreten Handelns: Macht das Sinn, was ich getan habe, was ich gerade tue, was ich vorhabe?

(2) Ebene des individuellen Lebensganzen: Welchen Sinn sehe ich in meinem einmaligen individuellen Leben?

(3) Universale, kosmische Ebene: Hat das Leben auf der Welt an sich einen Sinn?

Auf der ersten Ebene bezieht sich der Sinn zunächst auf vorgegebene Zwecke: Ich arbeite, um Geld zu verdienen, um möglichst viel konsumieren zu können. Wenn solche Zwecke aber selbst fraglich werden, gelangt man zu den weiteren Ebenen der Sinnfrage. Damit fühlen sich viele Menschen allerdings oft überfordert, mit der Folge, dass die üblichen Zwecke, z.B. möglichst viel zu konsumieren, besser nicht hinterfragt werden. Wird die Sinnfrage auf den verschiedenen Ebenen aber doch zugelassen, dann kann sie den Einzelnen über sich selbst und seine bisher unbefragten Zwecke und Werte hinausweisen, sei es auf andere Menschen, indem man etwas für andere tut, sei es auf übergreifende Wertzusammenhänge, wie es z.B. mit religiösen oder philosophischen oder politischen Vorstellungen geschehen kann. Man kann die Sinnfrage auf verschiedene Weise angehen: indem man für sich einen Sinn findet oder einen Sinn schafft. Ersteres könnte bedeuten, sich in ein vorgegebenes Sinnsystem einzugliedern, Letzteres müsste heißen, in irgendeiner Weise Werte zu schaffen oder auf den Weg zu bringen, die über einen selbst hinausweisen (dies ist für Nietzsche ein zentraler Aspekt seiner Lebensphilosophie). Da jedoch die traditionalen, vorgegebenen Sinnsysteme in unserer westlichen Zivilisation weithin nicht mehr als allgemeinverbindlich anerkannt werden, sind wir heute umso mehr genötigt, individuelle Antworten auf die Sinnfrage zu schaffen.

Der Psychologe Reinhard Tausch (2004: 92) geht aufgrund seiner Forschungen davon aus, dass es zwischen Sinnhaftigkeit und seelischer Gesundheit deutliche Zusammenhänge gibt. Dabei sind vor allem vier Sinnfaktoren von Bedeutung:

(1) Erfolg, Karriere, Beruf, Ziele, Wünsche, sich etwas leisten zu können.

(2) Sinn im Bereich des eigenen Inneren (Selbstvertrauen, Selbstbestimmung, Gesundheit, Natur erleben u.a.).

(3) Helfen, Verantwortung übernehmen, Sinnerfahrungen in Partnerschaft und Familie.

(4) Religiöser/spiritueller/philosophischer Glaube, Vorbilder, Akzeptieren des Unabänderlichen, der Begrenztheit der Möglichkeit und der Lebenszeit u.a.

In jedem Fall ist es wichtig, dass das Sinnerleben nicht nur das Bewusstsein bzw. die Vernunft betrifft, sondern auch die Sinnlichkeit. Dies legt schon die doppelte Bedeutung des Wortes "Sinn" nahe: (1) Sinnvoll ist etwas, das man als vernünftig ansehen kann (Gegenteil: sinnlos, unsinnig); (2) sinnvoll ist etwas, das die Sinne anspricht (Gegenteil: unsinnlich). Im Wort "Sinn" sind also Vernunft und Sinnlichkeit, Denken und Empfinden, Geistigkeit und Körperlichkeit unlöslich verbunden.

3.2 Glück

Maßstab und Ziel jeglicher Lebensplanung und Lebenskunst ist Glück. Dieser vieldeutige Begriff umfasst in unserem Sprachgebrauch sowohl das, was einem schicksalhaft widerfährt (Glück als "Zufall"), als auch das planende, gestaltende Handeln (Glück als Gelingen, "jeder ist seines Glückes Schmied"). Lebenskunst heißt einerseits, schicksalhafte Widerfahrnisse anzunehmen und damit auch für Glück empfänglich zu sein, andererseits sich Bedingungen zu schaffen, die für ein glückhaftes Erleben förderlich sind.

Ich definiere Glück ganz allgemein folgendermaßen: Glück heißt, sich selbst als wertvollen Menschen in wertvollen Beziehungen erleben zu können - alles andere sind dafür förderliche oder hinderliche Bedingungen. Auch das Selbstwertgefühl ist nicht einfach herstellbar - man kann es in sich vorfinden, wie es unter günstigen Bedingungen einem gegeben ist; es kann aber bei weniger günstigen Bedingungen auch defizitär sein oder verletzt und gekränkt oder im Extremfall zerstört werden (dies ist eines der Hauptthemen in der Psychotherapie). Dennoch kann man sich für förderliche Bedingungen einsetzen und sich mit hinderlichen Bedingungen auseinandersetzen, um Glück erleben zu können, sei es als episodisches Glück, also das Erleben von einzelnen Glücksmomenten, sei es als übergreifendes Glück, d.h. ein gelingendes Leben insgesamt.

Martin Seel unterscheidet in seiner Philosophie des Glücks vier verschiedene Formen des Glücks:

(1) Glück als Wunscherfüllung, d.h. sein Leben so einrichten zu können, dass das eintreten kann, was man sich wirklich langfristig wünscht.

(2) Glück als Selbstbestimmung, d.h. einen Prozess selbstbestimmten Lebens in Gang zu setzen und in Gang zu halten, die Erfahrung der Gestaltbarkeit des Lebens nach eigenen Vorstellungen.

(3) Glück als gelingende Welterschließung, d.h. auf die Herausforderungen durch die Welt angemessene Antworten geben zu können.

(4) Glück als erfüllter Augenblick, d.h. offen zu sein für ungeplante, unbekannte Zustände, in denen das eigene Wünschen und Wollen auch transzendiert werden kann, sich also nicht an die eigene Lebenskonzeption fesseln zu lassen.

Selbstsorge zielt generell auf ein glückendes, gelingendes Leben. Dafür müssen einerseits äußere Bedingungen gegeben sein oder geschaffen werden, die überhaupt Glück erleben lassen (z.B. eine hinreichende Sicherung der existenziellen Gründbedürfnisse), und andererseits muss jeder Mensch für sich selbst Bedingungen schaffen, damit er Glück erleben kann, indem er sich nicht nur um einen vergnüglichen, sondern auch um einen maßvollen, verantwortungsvollen und sinnvollen Lebensstil bemüht; außerdem gehört die Kraft dazu, auch schmerzliche Erfahrungen, Krankheit und sonstige Schicksalsschläge zu verarbeiten sowie eigene Schwächen, Schattenseiten und Widersprüche anzunehmen und mit ihnen verantwortlich umzugehen.

3.3 Verantwortung

Sinn und Glück müssen im Zusammenhang stehen mit Verantwortung. Denn der hohe Wert meines persönlichen Glücks ist gefährdet, wenn die Menschen, mit denen ich zusammenlebe, mein Glück nicht tolerieren können und wenn ich nicht auf die legitimen Glücksinteressen der anderen Rücksicht nehme. Die Bereitschaft zur Rücksichtnahme bzw. die in allen Kulturen überlieferte "goldene Regel" ("Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg auch keinem anderen zu") ist die Basis jeglicher Moralität.

Verantwortung ist der zentrale Begriff einer zeitgemäßen Ethik (vgl. Bauman 1995: 373). Dieser Begriff muss heute den der Pflicht ersetzen, denn ein Pflichtdenken impliziert, dass nur eine Möglichkeit des Verhaltens richtig ist. Demgegenüber ist heute eine Kompetenz erforderlich, zwischen mehreren Möglichkeiten oder zwischen entgegenstehenden Werten abzuwägen; und man muss für seine Entscheidung die Verantwortung übernehmen und für die Folgen geradestehen. Verantwortung impliziert das "Antworten" auf andere Personen in den jeweiligen Situationen und Kontexten; diese stellen für den Handelnden eine "Herausforderung" dar, aus sich herauszutreten und die Position des jeweiligen Anderen einzunehmen (Lévinas 1983: 209 ff). Dies lässt sich methodisch durch einen inneren Rollentausch erlebbar machen: So kann ich etwas über dessen Situation und Interessen erfahren und dann auch erspüren, wie ich antworten muss im Ausgleich mit meinen eigenen Interessen. Erst daraus kann ein Motiv zum moralischen Handeln erwachsen, das allen von meinen Handlungen Betroffenen gerecht wird.

Der Horizont der Verantwortung wächst mit den Einflussmöglichkeiten des Handelnden, wie z.B. bei Verantwortungsträgern in Politik und Wirtschaft und in anderen Organisationen. Dies angesichts der globalen Interdependenzen und Vernetzungen überhaupt wahrnehmen und reflektieren zu können, verlangt besondere Freiräume für ethische Reflexion. Life-Coaching kann ein solcher Freiraum sein; es ist kein Ort für moralische Belehrung, wohl aber ein Ort für die ethische Reflexion über die moralischen Implikationen seines Handelns.

Als Resümee lässt sich sagen: "Verantwortetes Glück macht Sinn" (Buer & Schmidt-Lellek 2008: 13).

4. Praxis der Selbstsorge

Selbstsorge ist ein Gegenbegriff zu Burnout: Während eine der Ursachen für ein Burnout in einer übermäßigen Fremdbestimmung zu orten ist, bedeutet Selbstsorge eine hinreichende Selbstbestimmung, die "Regierung über sich selbst", wie Michel Foucault betont. Selbstsorge ist kein einmaliger Akt einer Entscheidung für einen eigenen, selbstbestimmten Weg, sondern es ist eine lebenslange Arbeit an sich selbst, sein Leben in einer für sich passenden Weise zu gestalten, also einen eigenen Lebensstil zu entwickeln. Sich als Subjekt erleben zu können bzw. sich überhaupt als Subjekt zu konstituieren, bedeutet, die Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Lebens nicht in fremde Hände zu legen. Eine Ethik der Lebenskunst heißt, sich nicht an von außen diktierten Wertvorstellungen zu orientieren (Schmid 1998: 60 ff). Und dies verlangt, seine Freiheit als vernunftbegabter Mensch auch zu nutzen.

Selbstsorge ist reflektierte Praxis, sie setzt also Selbsterkenntnis voraus. Selbsterkenntnis ist nicht nur Selbstzweck, sondern bezieht sich auf konkrete Handlungen. Beides ist nicht nur eine Haltung, sondern auch Handlung. Selbstsorge ist ein wesentliches Merkmal von Lebenskunst und eine Voraussetzung für gelingendes Leben. Aber sie muss eingeübt werden, und dazu braucht es Freiräume, unterstützende Rahmenbedingungen und konkrete Anleitung. Dazu seien im Folgenden zwei Konzepte kurz dargestellt, die neben manchen anderen konzeptionellen Hilfestellungen für die bewusste Lebensgestaltung bedeutsam sein können und auch im Life-Coaching zur Orientierung herangezogen werden können.

4.1 Selbsttechniken nach Foucault

Foucault (1993) empfiehlt mit Bezug auf die Philosophen der Antike einige "Selbsttechniken", mit denen eine kultivierte Selbstsorge eingeübt werden kann:

(1) Askese (griech. = "Übung"): Der Begriff "Askese" ist durch die christliche und besonders die monastische Tradition vorbelastet: Man assoziiert vor allem Selbstverleugnung und Verzicht. Nach Foucault ist Askese jedoch weniger Verzicht, sondern vielmehr ein Mittel, sich mit etwas auszustatten. Dabei geht es um die Ermöglichung, zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen des Lebens zu unterscheiden und sich über sein alltägliches Tun Rechenschaft zu geben. Diese Rechenschaft solle aber nicht primär im Sinne von Schuldzuweisungen oder Gewissensbissen erfolgen, sondern etwa bei einem überdachten Misslingen die Vernunft verstärken und damit für ein gelingendes Verhalten sorgen. In Anlehnung an die alten Griechen lassen sich bei den Übungen der Askese zwei Pole unterscheiden:

Meléte bzw. meditatio: eine imaginierte Erfahrung, um das Denken zu schulen; d.h. um reale Situationen vorzubereiten und um auch Schicksalsschläge in Würde zu meistern (z.B. imaginierte Dialoge).

Gymnasía: die Übung im realen Tun, in den konkreten Handlungen, auch wenn sie künstlich herbeigeführte Übungssituationen sind (z.B. Rollenspiele).

(2) Schreiben als Form der Selbstreflexion, als Möglichkeit, zu sich selbst in Distanz zu treten (Notizbücher, Tagebücher, Briefe) und Erfahrungen und Erkenntnisse beim Wiederlesen neu zu reflektieren. Das Schreiben dient zur Heranbildung seiner selbst, zur Formung und Transformation seiner selbst.

(3) Traumdeutung: Träume können als "Realitätszeichen oder Botschaften von Künftigem" verstanden werden; sie sind eine "Einladung zur Freiheit und zur Veränderung", indem sie nicht nur schon Gewesenes, sondern auch noch Mögliches aufzeigen.

(4) Einteilung der Zeit: Die Selbstsorge verlangt Freiräume, eine Auszeit aus dem alltäglichen Geschäft, um in Ruhe zu sich zu kommen.

Diese Empfehlungen sollen nicht zu einer ängstlich-verbissenen Grundeinstellung führen - so wie unser umgangssprachliches Verständnis von "Askese" als Lustfeindlichkeit nahelegen mag. Vielmehr eröffnet die "Übung" der Selbstsorge "die Erfahrung einer Freude, die man an sich hat" (Foucault 1986: 91). Selbstsorge "ist keine Übung in Einsamkeit, sondern wahrhaft gesellschaftliche Praxis" (S. 71). Sie ist in vielfältiger Weise auf andere Menschen bezogen. Es ist keine Weltflucht, reine Innerlichkeit oder Egozentrik, sondern indem ich mich mit mir selbst beschäftige, werde ich fähig, mich mit anderen zu beschäftigen. Man muss sich selbst regieren, um andere regieren zu können; d.h. es ist Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein.

4.2 Vier Tätigkeitsdimensionen (nach Martin Seel)

Als Leitlinie für eine bewusste Gestaltung seiner Lebensvollzüge möchte ich nun ein Konzept des Frankfurter Philosophen Martin Seel vorstellen, das auch als Modell für eine gelingende Work-Life-Balance geeignet ist. Seel hat in seiner Untersuchung "Versuch über die Form des Glücks" (1999: 139 ff.) vier verschiedene "Dimensionen gelingender menschlicher Praxis" beschrieben, in denen sich die oben genannten Formen des Glücks realisieren können:

(1) Arbeit: zielgerichtetes Handeln zum Erreichen äußerer Zwecke, die Behandlung eines Objekts durch ein Subjekt. Arbeit ist ein konstitutiver Bestandteil gelingenden Lebens; denn "wir eignen uns die Welt im arbeitenden Umgang an" (S. 147). Gelingende Arbeit setzt ein hinreichendes Maß an Autonomie voraus, in welcher der Arbeitende seine Leistungen erbringen kann. So gesehen kann Zwangsarbeit zwar instrumentell erfolgreich sein, aber sie kann nicht als gelingende Arbeit gelten. Im Hinblick auf unsere Arbeitsgesellschaft spricht Seel von einer "meist zugleich individuellen und sozialen Pathologie des Arbeitens. Sie liegt darin, nichts anderes - nichts anderes von Wert - zu kennen als Arbeit. Damit entsteht aber das Problem, dass mit dem Erreichen eines Arbeitsziels es kein sinnvolles Tun und Dasein mehr gibt: Der Augenblick des instrumentellen Gelingens wird zum Augenblick des existenziellen Misslingens" (ebd.). Daraus folgt die Notwendigkeit, sich auch die anderen Lebens- und Tätigkeitsdimensionen zugänglich zu machen, damit die Arbeit im Lebensganzen gelingen kann; denn "zum Gelingen von Arbeit gehört mehr als das Gelingen von Arbeit" (S. 150).

(2) Interaktion: Umgang mit einem menschlichen Gegenüber, die Begegnung unter Subjekten. Hier geht es um den "Zugang zu einer Wirklichkeit, die nicht lediglich zu Zwecken der Aneignung da ist" (ebd.). Während wir uns in der Arbeit an der Wirklichkeit eines Gegenstandes abarbeiten, lassen wir uns hier auf die Wirklichkeit eines Gegenübers ein. Dabei ist die Unterscheidung zwischen strategischer und dialogischer Interaktion zu treffen: Wenn ein strategisches Einwirken auf Andere überwiegt, kann es sich um eine Form der Arbeit handeln, indem der Andere zum Objekt meines Handelns wird. Dialogische Interaktionen dagegen sind "Handlungen, in denen wir in Antwort auf die Antworten anderer handeln." Bedingung dafür ist eine wechselseitige Offenheit füreinander, indem der Andere nicht lediglich für eigene Zwecke instrumentalisiert wird. Dennoch können strategische und dialogische Interaktion zusammen bestehen, so wie auch Arbeit und Interaktion koexistieren können. Hier wäre im Einzelnen jedoch zu fragen, "welches Maß an strategischem Handeln mit dialogischem Verhalten verträglich ist" (S. 153), ohne dass also die Offenheit für den Anderen verloren geht - eine Frage, die insbesondere für professionelle Beratung (wie z.B. Coaching) eine hohe Relevanz hat. Dialogische Interaktion bedeutet die Erfahrung von wechselseitiger Anerkennung, und das ist Bedingung für gelingende personale Identität. Aber diese Erfahrung scheint heute vielen Menschen mehr und mehr zu fehlen, indem für sie die Erfahrung einer wechselseitigen Instrumentalisierung dominiert. Wer andere Menschen vorrangig für eigene Zwecke instrumentalisiert, wirkt nicht nur auf diese verletzend, sondern beschädigt auch sich selbst, denn er verliert die "Möglichkeit, sich selbst anderen gegenüber als lebendiges Gegenüber zu erfahren" (S. 158). Außerdem ginge mit einer fehlenden Auseinandersetzung mit Fremdheit auch die Möglichkeit der eigenen Entwicklung verloren. Andererseits ist auch eine gelingende dialogische Interaktion auf andersartige Erfahrungen angewiesen, denn sonst würde eine Verarmung oder Verödung der Interaktionen drohen. Kurz: "Zu gelingender Interaktion gehört mehr als das Gelingen von Interaktionen" (ebd.).

(3) Spiel: Tätigkeit ohne externen Zweck, ein vollzugsorientiertes Handeln, das seinen Zweck in sich selbst trägt. Im Spiel kann die Gegenwärtigkeit des eigenen Lebens stärker erfahrbar werden. Dies kann zwar auch in den anderen Dimensionen geschehen: So spricht z.B. Csikszentmihalyi (1996: 175) von dem "flow-Erlebnis" als einer besonderen Qualität von Arbeitsvollzügen, wenn jemand völlig in seinem Tun aufgeht - ebenso wie beim Schachspielen oder beim Tanzen. Der spielerische Zugang zur Wirklichkeit ist zwar als zweckfreies Tun zu begreifen, aber er ist andererseits - so die zentrale These des Kulturanthropologen Huizinga (1956) - eine der Bedingungen der höheren Kulturentwicklung: Gerade das nicht an Ziele und Zwecke gebundene Handeln bietet den offenen Raum für freie Bewegungen der Phantasie und der Kreativität, aus der überraschende, ungeplante Entdeckungen gemacht werden können. Die Gefährdungen des Spielens liegen zum einen in einer Instrumentalisierung durch externe Zwecke, sodass die Gegenwärtigkeit des Spielens verloren geht. Zum anderen kann eine Spielleidenschaft zur Spielsucht degenerieren, wenn das Spielen mit den sozialen Verbindlichkeiten nicht mehr kompatibel ist. So lässt sich auch hier abschließend festhalten: "Zum gelingenden Spielen gehört mehr als nur gelingendes Spiel" (Seel 1999: 165).

(4) Betrachtung, Kontemplation: Interaktion mit einem Gegenstand ohne ein personales Gegenüber, auch dies ist primär vollzugsorientiertes Handeln. Betrachtung ist "ein selbstzweckhaftes denkendes und anschauendes Verweilen" bei einem Gegenstand (Seel 1999, 165 ff.). Es handelt sich um eine Interaktion ohne ein personales Gegenüber, ohne eine dialogische Begegnung. Der Begriff "Betrachtung" entspricht dem griechischen theoría sowie dem lateinischen contemplatio oder speculatio. Bei Aristoteles ist "theoría" ein rein selbstzweckhaftes Handeln, das jedem bewirkenden Vollbringen entgegensteht und keine Resultate anstrebt, - unabhängig davon, dass daraus auch wertvolle Erkenntnisse oder veränderte Haltungen hervorgehen können. In der Betrachtung treten wir in eine Distanz zu den Belangen und Sorgen des Alltags. In diesem Abstand von allem pragmatischen Tun kann ein tiefes Sich-Versenken in einen Gegenstand geschehen, etwa beim Betrachten eines Bildes oder beim Hören einer Musik, in welchem ebenfalls (wie im Spiel) ein Erleben von erfüllter Gegenwart möglich ist. Im kontemplativen Verweilen kann man "aus der Zeit des Strebens nach vorgefassten Zielen heraustreten," man kultiviert damit "eine Distanz gegenüber sich und der Welt, die einen mit sich selbst und der Welt freier umgehen lässt" (S. 169). Eine Gefährdung dieser Lebensdimension ist dann gegeben, wenn sie als übergreifendes Lebensideal genommen wird. Denn damit würde sich der Wechsel von Nähe und Distanz zur Welt auflösen, und wie bei einem Spielsüchtigen könnte der Zugang zu den anderen Tätigkeitsdimensionen verloren gehen. Man muss also die Kontemplation jederzeit abbrechen können. "Sie bietet einen erfüllenden Abstand nur, solange dieser Abstand nicht zur Flucht vor der Beteiligung am vollbringenden und dialogischen Handeln gerät" (S. 170). So gilt also auch für diese Tätigkeitsdimension: "Zu gelingender Betrachtung gehört mehr als gelingende Betrachtung" (ebd.).

Gelingendes, glückliches Leben bedeutet, eine Balance zwischen diesen vier Dimensionen zu finden oder immer wieder neu zu schaffen. Diese Balance ist gefährdet, wenn einerseits eine oder mehrere Dimensionen fehlen oder unterentwickelt sind und wenn andererseits eine einzelne Dimension allzu sehr dominiert oder absolut gesetzt wird (wie z.B. beim Spielsüchtigen oder beim "Workaholic"), sodass der Wechsel zu anderen Tätigkeitsdimensionen erschwert oder verunmöglicht wird. Die Gewichtung der einzelnen Dimensionen kann in den verschiedenen Kulturen und in individuellen Biographien sehr unterschiedlich sein; aber gelingendes Leben setzt nach diesem Konzept voraus, dass diese vier Dimensionen einem Menschen zugänglich sind und in irgendeiner Weise ihren Platz in seinem Lebensalltag haben.

5. Schlussfolgerungen für die Selbstsorge als Burnout-Prävention

Professionelles Handeln von Fach- und Führungskräften verlangt über die äußeren Kompetenzen und Fähigkeiten hinaus auch den verantwortungsvollen Einsatz der eigenen Person. Dies wird jedoch immer schwieriger, wenn man bedenkt, dass für diesen Personenkreis einerseits die Leistungsanforderungen eminent gestiegen sind und dass andererseits für viele Professionelle die äußeren Ich-Funktionen und das innere Selbst auseinanderzuklaffen drohen. Deswegen ist heute ein Life-Coaching als Einübung der Selbstsorge so wichtig, damit der Blick auf das Lebensganze und auf alle Lebensdimensionen gelenkt werden kann. Selbstsorge als Achtsamkeit für sich selbst betrifft das persönliche Wohlbefinden durch ein Erleben von Sinn und Glück ebenso wie einen durch Verantwortung geprägten beruflichen Erfolg. Je mehr das eigene Befinden missachtet wird, sei es von einem selbst, sei es von Anderen (Vorgesetzten, Berufskollegen, Familienangehörigen usw.), desto größer ist die Gefahr, dass die "Balance" zwischen den verschiedenen Lebensdimensionen verloren geht - so wie ein Radfahrer sich nicht mehr fortbewegen kann, wenn er das Gleichgewicht verliert. Neben vielen äußeren und inneren Bedingungsfaktoren für Burnout, die in der einschlägigen Fachliteratur genannt werden (vgl. Gussone u. Schiepek 2000), spielt ein Mangel an Achtsamkeit für sich selbst bei einem Entstehen von Burnout eine bedeutsame Rolle. Dieser Mangel kann z.B. folgendermaßen zum Ausdruck kommen:

(1) als Entfremdung von eigenen Wertvorstellungen, Neigungen und Interessen,

(2) als kritiklose Unterwerfung unter die Interessen Anderer,

(3) als unbedachte Übernahme von ethisch unverantwortlichen Aufgaben,

(4) als Missachtung von eigenen Leistungsgrenzen,

(5) als Selbstausbeutung aufgrund von Ängsten vor Kritik oder vor Jobverlust,

(6) als unkontrolliertes Ausleben von Emotionen (z.B. Wut und Ärger gegen Andere).

Selbstsorge als reflektierter und achtsamer Umgang mit sich ist ein wesentliches Merkmal einer gelingenden, d.h. glückhaften, sinnerfüllten und verantwortungsvollen Berufs- und Lebensgestaltung. Life-Coaching bietet einen Freiraum, in dem die Kompetenzen dafür eingeübt werden können.

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